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Reiner Schürmann: Wie ich während der Siesta aus dem Kibbuz fliege
Wie ich während der Siesta aus dem Kibbuz fliege
(S. 31 – 60)

»Ich bin nicht gut im Vergessen. Ich kann es überhaupt nicht«

Reiner Schürmann

Wie ich während der Siesta aus dem Kibbuz fliege

Aus: Ursprünge, S. 31 – 60

»Joan, die Vergangenheit, die man mir aufdrängt, will ich nicht. Mit dir suche ich mir eine andere, die lustiger ist.«


»Heute nachmittag gibt es ein Picknick. Am kleinen Wasserfall. Alle gehen hin.«


»Dein Afrolook gefällt mir.«


»Faß mal an. Aus Roßhaar.«


»Ich will meine Hände drin vergraben. Mich festklammern. Meinen Kopf drin verstecken. Du wirst mich aus diesen üblen Schwaden herausholen.«


»Von wegen Schwaden. Die sind hier drinnen. Hinter dieser Stirn, da drinnen schwelt es.«


»Nein, sie kommen einfach, umrißlos. Selbst du schaust mich so an, wenn du redest…«


Unsere schwitzenden Leiber ziehen die Fliegen an. Die Luft ist zum Ersticken. Selbst die Bremsen sind benommen. Sie versuchen nicht ein­mal davonzufliegen, wenn man sie zerquetscht. Mechanische Handgriffe. Ich verbrenne mich an meiner Gürtelschnalle. Der Schatten bildet einen schwarzen Fleck um uns, doch auch hier herrscht dieselbe Hitze. Ich habe jede Vorstellung von Kühle verloren. Vor uns das riesige Baumwollfeld. Weiße Fasern überall, wie Speichelflocken. Joan und ich haben sie von der ersten Reihe gepflückt, die den Graben entlang verläuft. Da kommen die Erntemaschinen nicht vorbei. Zu nahe am Rand. Ein Güterwaggon ist auf einen Tieflader montiert. Damit die Maschinen sich darüber neigen und sich entleeren können. Wie ein kreißendes Gebirge. Sterile Lawine, gestaltlos. Sie wälzt sich direkt zu den Spinnereien. Der Stoff wird im Ausland gefertigt, die Ballen in Haifa verladen. 


Joan ist so glücklich zu leben. I’m happy, I’m alive. Sie schließt die A­ugen, wenn sie singt. Ich möchte, daß sie aufhört, mir zuhört. Möchte ihr den Satz wiederholen, der mir in den Ohren klingt: »Ihre Anwesenheit hier ist in Frage gestellt worden.« Sehen, wie sie reagieren w­ürde. Ich würde einen Augenblick schweigen. Zeit, die Wahrheit abzumildern, sie durch Schweigen auf eine handhabbare Größe zu bringen. Eine Pause, um den Schrecken auf ein Maß zu verringern, mit dem ich würde leben können. Dann würde ich schließlich herausbringen: »Joan, sie werden mich rauswerfen.« Ich würde ihr von der Vergangenheit erzählen. Von der großen Gedächtnisökonomie, die sie mir auferlegt. Vom Schweigeschicksal, an das sie mich gewöhnt hat. Eine Vergangenheit des Zähnezusammenbeißens. Doch sie wäre mißtrauisch. Der Vorstoß erschiene ihr suspekt. Sie würde glauben, nicht Liebe spräche daraus, sondern Angst, die Liebe zu verlieren. 


»Sich vor der Vergangenheit fürchten. Wie kindisch du bist.«


Ich antworte bloß:


»In Ordnung mit dem Wasserfall. Hier zerfließen wir ja.«


Es ist ein langes Feld. Mehr als ein Kilometer. Fünf Stunden haben wir uns abgeschunden. Mit krummem Rücken Jutesäcke schleppend. Als sie voll waren, richtete Joan sich...

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Reiner Schürmann

Reiner Schürmann

wurde 1941 in Amsterdam geboren und ver­brachte seine Kindheit und Jugend in Krefeld. Ab 1960 studierte er Philosophie in München, unterbrochen durch einen Aufenthalt in einem israelischen Kibbuz. 1961 trat er als Novize bei den Dominikanern in Frankreich ein und studierte von 1962–69 Theologie im Saulchoir, Essonne, bei Paris, unterbrochen durch einen Studienaufenthalt in Freiburg i. Br. bei Heidegger. 1970 wurde er zum Dominikanerpriester ordiniert, verließ den Orden 1975 jedoch wieder. Seit den frühen siebziger Jahren lebte Schürmann in den USA und wurde 1975 von Hannah Arendt und Hans Jonas an die New School for Social Research in New York berufen. 1993 starb Reiner Schürmann an Aids. Sein umfangreiches philosophisches Werk verfasste Schürmann in französischer Sprache.

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Reiner Schürmann: Ursprünge

Reiner Schürmann

Ursprünge

Übersetzt von Michael Heitz und Esther von der Osten

Gebunden mit Schutzumschlag, 224 Seiten

PDF, 224 Seiten

Ein junger Deutscher in den sechziger Jahren schreibt hier, heimgesucht von einer übergroßen Sensibilität für die Allgegenwart der Vergangenheit. Geradezu körperlich trägt er in seiner eigenen Person die Unfähigkeit aus, zu vergessen, was er selbst nicht bewusst erlebt hat: Krieg und Vernichtung. Die stark autobiographisch geprägte Erzählung folgt den zahlreichen Etappen einer Suche nach den eigenen Ursprüngen, zeichnet Aufbrüche, Fluchten, Irrwege nach. Da sind die Kindheitserlebnisse der unmittelbaren Nachkriegsjahre auf dem väterlichen Fabrikgelände, wo die quälenden Fragen erwachen, da ist ein Jahr zwischen Überschwang und Angst in einem israelischen Kibbuz, da ist das auf einer Idylle des Vergessens wiedererstehende Freiburg der späten sechziger Jahre, in das der jüdische Freund auf Besuch kommt, da ist schließlich das mit Massen von Emigranten geteilte Bemühen um eine akademische Anstellung in Amerika, was zu grotesken Begegnungen, aber auch in eine neue Zukunft führt… »Ursprünge« ist ein sehr persönliches Buch, aber auch ein Schlüssel zum Verständnis einer ganzen Generation zwischen Enttäuschung und Wut, Anpassung und Aufbegehren. Schürmanns Schreibweise ist von irritierender Präzision, entwaffnender Direktheit und schmerzhafter Konsequenz. Schürmanns einziges literarisches Werk erschien 1976 in Frankreich und wurde mit dem Prix Broquette-Gonin der Académie Française ausgezeichnet. Im Umweg über die französische Sprache, über 30 Jahre nach Erscheinen, ist die hier vorgelegte deutsche Erstausgabe ein auch für die heutigen Generationen eminent wichtiges Buch.