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»Was, zum Teufel, ist das für ein Land…«

Alexis de Tocqueville

Am Oneida-See

Aus: Fünfzehn Tage in der Wildnis, S. 83 – 92

Am 8. Juli 1831 verließen wir bei Sonnenaufgang das kleine Dorf Fort Brewington und machten uns nach Nordwesten auf den Weg. 


Ungefähr anderthalb Meilen vom Haus unseres Gastgebers entfernt führt ein Pfad in den Wald; wir folgen ihm unverzüglich. Die Hitze begann schon, lästig zu werden. Auf eine stürmische Nacht war ein Morgen ohne Frische gefolgt. Bald befanden wir uns, vor den Strahlen der Sonne geschützt, mitten in einem jener tiefen Wälder der Neuen Welt, deren finstere und wilde Majestät die Einbildungskraft ergreift und die Seele mit einer Art religiösem Schauer erfüllt. 


Wie soll man ein solches Schauspiel schildern? Auf einem sumpfigen Gelände, auf dem tausend noch nicht von Menschenhand eingekerkerte Bäche fließen und sich in Freiheit verlieren, hat die Natur wahllos, mit unglaublicher Fülle, die Keime nahezu aller Pflanzen – ob auf der Erde kriechend oder sich über den Boden erhebend – durcheinandergesät. 


Etwas wie eine weite Kuppel aus Grün breitete sich über unseren Köpfen aus. Unterhalb dieses dichten Schleiers und ­gleichsam inmitten der feuchten Tiefen des Waldes gewahrt das Auge eine ungeheure Wirrnis: eine Art Chaos, Bäume jeden Alters, ­Blattwerk aller Art, Kräuter, Früchte, tausenderlei Blumen, vermischt, miteinander verflochten am selben Ort. Seit Jahrhunderten sind hier Generationen von Bäumen ununterbrochen aufeinander gefolgt und haben die Erde mit ihren Resten bedeckt. Die einen scheinen gestern gefällt; von anderen, bereits halb im Boden versunkenen besteht nur noch eine leere Rinde; wieder andere schließlich sind zu Staub geworden und dienen ihren letzten Schösslingen als Dünger. Inmitten von alledem mühen sich tausend verschiedene Pflanzen, sich ihrerseits nach oben vorzuarbeiten. Sie gleiten zwischen diesen reglosen Kadavern hindurch, kriechen auf ihrer Oberfläche, dringen vor unter ihre welke Rinde, heben und verstreuen den Staub ihrer Reste. Es ist wie ein Kampf zwischen Leben und Tod. Manchmal geschah es, dass wir auf einen ungeheuren Baum trafen, den der Wind entwurzelt hatte; aber im Wald steht alles derartig dicht, dass er sich trotz seines Gewichts nicht bis zur Erde hatte Bahn brechen können. Seine verdorrten Äste schaukelten noch in den Lüften. 


Feierliches Schweigen herrschte inmitten dieser Einsamkeit … Man sieht keine oder kaum lebende Geschöpfe. Der Mensch fehlte, und doch war es keine Wüste. Im Gegenteil zeigte hier alles in der Natur eine anderswo unbekannte Produktivität. Alles war Tätigkeit; die Luft schien durchtränkt zu sein von einem Vegetationsgeruch. Etwas wie ein inneres Rauschen schien die Arbeit der Schöpfung zu offenbaren, und man glaubte den Saft und das Leben durch stets offene...

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Alexis de Tocqueville

Alexis de Tocqueville

war einer der wichtigsten politischen Denker seiner Zeit. Seine Schriften, allen voran sein Hauptwerk »Über die Demokratie in Amerika«, werden bis heute in Politikwissenschaft und Soziologie intensiv rezipiert. Mit seinen Reiseberichten aus Amerika und Algerien begründete er die Vergleichende Politikwissenschaft.

Alexis de Tocqueville: Fünfzehn Tage in der Wildnis

Alexis de Tocqueville

Fünfzehn Tage in der Wildnis

Übersetzt von Heinz Jatho

Mit einem Nachwort von Robin Celikates

Broschur, 112 Seiten

Inkl. Mit einem Text von Gustave de Beaumont

ePub

Während seiner großen Nordamerikareise, die eigentlich den Beobachtungen des amerikanischen Rechtssystems gewidmet war und der wir letztendlich auch sein Hauptwerk »Die Demokratie in Amerika« verdanken, begab sich Alexis de Tocqueville für zwei Wochen auf Abwege. Auf der Suche nach der Wildnis und den Ureinwohnern des Kontinents durchreist er den Bundesstaat New York, überquert den Eriesee und findet schließlich fast unberührte Täler im Distrikt Michigan. Der Bericht seiner Eindrücke und Begegnungen zeichnet ein unmittelbares Bild von der Verheerung und Erschließung, der Zerstörung und Zivilisierung des Kontinents und seiner Bevölkerung.