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Ein genialer Trick

Barbara Basting

Marinetti Detox

Veröffentlicht am 11.07.2019

Bis heute verstehe ich nicht ganz, warum ich plötzlich von Marinetti wie besessen war. Was brachte mich dazu, noch die entlegensten seiner Schriften aufzustöbern? Erstausgaben, die inzwischen in die hintersten Winkel der Bibliotheken geraten waren und bald in irgendwelche Bunker in den Bergen ausgelagert würden. Säuerlich riechende Bände, aus denen jahrzehntealte, handgeschriebene Leihscheine fielen. Eine Edition sämtlicher futuristischer Traktate Marinettis in einer italienischen Klassikerreihe. Sowie seine Tagebücher, aber nur jene von 1915–21, in einer kommentierten Ausgabe. Das dicke Buch lag schwer in der Hand. Es sah so aus, als sei es seit seiner Anschaffung von niemandem mehr berührt worden.

Ein Hindernis für eine seriöse Annäherung war mein unzulängliches Italienisch. Doch fiel mir das erst nach einiger Zeit auf. Denn ausgerechnet der bekannteste Text Marinettis, das futuristische Manifest, war mir immer nur in der französischen Fassung begegnet. Komischerweise hatte ich mich lange nicht darüber gewundert. Vielleicht, weil ich Französisch verstand.

Bei den futuristischen Lautgedichten spielte Sprache zwar die Hauptrolle, doch das Übersetzungsproblem fiel weg. Denn das Prinzip war ZangTumbTuuum. Lustvolle Sprachzertrümmerung, Assoziationsketten, Spielereien. Später fand ich heraus, dass die Übersetzungen seiner Werke ins Deutsche sein Manifest zur futuristischen Küche von 1930 bevorzugten. In dem Pamphlet arbeitete Marinetti sich an der Pastaobsession seiner Landsleute ab. Es brauchte jedoch keine große Menschenkenntnis, um vorherzusagen, dass ein Kampf gegen die Nudel zur Erzeugung eines windschnittigen futuristischen Volkskörpers aussichtslos war. So aussichtlos wie jeder ästhetisch begründete Versuch der Volkserziehung. Insofern manifestierte sich in dem Küchentraktat ein Grundproblem jedes avantgardistischen Kampfes. Oder war Marinetti seiner Zeit einfach zu sehr voraus? Die Selbstoptimierung durch richtige Ernährung hatte neuerdings weite Kreise erfasst. Und war nicht der Körperkult der Gegenwart die Antwort auf den eigentlichen Futurismus des zwanzigsten Jahrhunderts, das Verschwinden alles Körperlichen in der Immaterialität der Digitalisierung?

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Auf Marinettis Roman Venezianella e Studentacchio war ich, kein Zufall angesichts von Titel und Inhalt des Werks, in der venezianischen Buchhandlung Toletta gestoßen, in die ich bei jedem meiner Venedig-Besuche hineinschaute und die jedes Mal wieder um ein paar Räume geschrumpft war. Das Werk war mehr als hundert Jahre nach dem futuristischen Urknall des Manifests aus Marinettis Nachlass erschienen. Marinettis jüngste Tochter und letzte Nachlassverwalterin Luce Marinetti Barbi hatte es dem Lektor Antonio Riccardi vom Verlag Mondadori 2002 zugesandt, wenige Jahre vor ihrem Tod 2009. Schon die ersten Sätze erzeugten einen Sog und wirkten zugleich so, als habe sein Verfasser ganze Wörterbücher in einen Mixer gepackt, auf Höchststufe geschreddert...

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Barbara Basting

Barbara Basting

studierte an der Universität Konstanz sowie an der Pariser Sorbonne Romanistik, Germanistik und Philosophie. Journalistische Tätigkeit ab 1986, unter anderem als Redaktorin der Zeitschrift du und im Kulturressort des Tagesanzeigers Zürich sowie als Redaktions- und Teamleiterin bei DRS2/SRF2 Kultur. Seit 2013 ist sie Ressortleiterin »Bildende Kunst« in der Kulturabteilung der Stadt Zürich. Die Kultur(en) der Digitalität beobachtet sie teilnehmend seit der »Net.art« der späten 1990er Jahre.

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