Nutzerkonto

Eine Phänomenologie des Mitleids

Helmut J. Schneider

Wie fern darf der Nächste sein?
Käte Hamburgers Mitleidsethik und das Problem globaler Empathie

Veröffentlicht am 09.04.2018

»Wie plump fällt die Sprache über ein so polyphones Wesen her!« So Friedrich Nietzsche über Wort, Begriff und Phänomen des Mitleids, das er bekanntlich, anders als der größte Teil unserer europäischen, jüdisch-christlich-aufklärerischen Überlieferung höchst kritisch, ja abwertend betrachtete. Die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger, die sich seit ihrem Studium und der nachfolgenden – nie beruflich abgesicherten – Forschungstätigkeit in München und Berlin in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts intensiv mit philosophischen Fragen beschäftigte, wobei der Einfluss von Husserls Phänomenologie prägend war; diese bedeutende Frau, deren Lebensweg durch die doppelte Diskriminierung als Frau und Jüdin gezeichnet war, wendete sich in ihren hohen Achtzigern – nach der 1933 erzwungenen Emigration in Schweden, der Rückkehr nach Deutschland Mitte der fünfziger Jahre und schließlich dem späten Ruhm durch ihr Buch über die Logik der Dichtung, das die Sechzigjährige in Stuttgart als Habilitationsschrift einreichte (die erste germanistische Habilitation einer Frau in Deutschland überhaupt) – der Aufgabe einer Phänomenologie des Mitleids zu. In dem schwer zugänglichen, spröden Werk nimmt Hamburger zunächst eine penible begriffskritische Analyse des Gegenstands vor. Aus dem »chaotischen Bild«, das ihr die vielen, einander widersprechenden und in sich widersprüchlichen Ansätze in der Theoriegeschichte bieten, möchte die Autorin eine Art »Metatheorie« herausarbeiten, die zugleich den Grund für das begriffliche Chaos benennen soll. Diesen findet sie in der bisher unerkannten »Distanzstruktur« des Mitleids. Als heuristische Leitformel für diese Distanzstruktur dient Hamburger Wittgensteins Definition aus den Philosophischen Untersuchungen, Mitleid sei eine »Form der Überzeugung, daß ein Andrer Schmerzen hat«. Gerade weil diese Definition die Gefühlskomponente unberücksichtigt lässt, bietet sie der Autorin den heilsamen Kontrast zu den kategorialen Vermischungen, von denen die »gefühlsmoralische Verhaltensweise« des Mitleids kontaminiert sei. Wittgensteins Mitleidsdefinition als Überzeugung von den Schmerzen des Anderen bzw. ihrem Verstehen impliziere einen das »Mitleid mittelbar […] reflektorisch fundierenden Vorgang«, der es gegen jede Form affektiver Unmittelbarkeit absetzt. Die Unhintergehbarkeit der reflexiven Distanz zeigt sich Hamburger nicht zuletzt an den widersprüchlichen Erklärungen der großen Gefühlsapologeten des Mitleids Rousseau und Schopenhauer, wie es möglich sein soll, mit, ja in einem Anderen selbst zu leiden. So bestimmte Rousseau in seiner Abhandlung über die Ungleichheit unter den Menschen von 1755 – einem Ursprungsdokument der Gefühlstheorie, auf das sich Schopenhauer berief – die instinkthafte Spontaneität des Mitleids zunächst negativ als einen »angeborenen Widerwillen seinen Mitmenschen leiden zu sehen«, und begrenzte die positiven Wirkungen dieses menschlichen Naturtriebs durch den anderen der Selbstliebe oder Selbsterhaltung (amour de soi, conservation de soi-même). Und wenn sein deutscher Nachfolger, mit dem sich Hamburger intensiv auseinandersetzt, das Mitleid einerseits als »spekulativen Identifikationsakt« begreift, der in der »Aufhebung des Unterschiedes zwischen mir und dem Anderen« besteht, so muss er doch im selben Atemzug eingestehen, dass, »da ich nun doch nicht in der Haut des Anderen stecke«, dies »allein vermittelst der Erkenntnis, die ich von ihm habe, in der Vorstellung von ihm in meinem Kopf« möglich sei.


Vom Gefühl und besonders vom Leiden aus ergibt sich kein Weg zur Ethik mitmenschlichen Verhaltens. Die dominierende Gefühlsbetonung im Mitleid verwischt nach Hamburger die Tatsache, dass wir das Leiden des Anderen immer nur im Modus der distanzierten und vermittelten Vorstellung eines Als-Ob erfahren können. Mitleidend leiden wir ohne zu leiden, im Bezug auf das Leiden des Anderen ist nur Teilnahme, nicht aber identifizierende Teilhabe möglich, wie sehr Letzteres auch immer wieder suggeriert werden mag. Hamburger zitiert den Egoismus-Apologeten Max Stirner, man könne zwar nicht die Zahnschmerzen seines Mitmenschen haben, jedoch: »Ihn schmerzt sein Zahn, mich aber schmerzt sein Schmerz.« Man ist versucht, hier an Bill Clintons berühmt-berüchtigtes Bekenntnis zu erinnern, »I feel your pain« (oder Angela Merkels angesichts der leidenden griechischen Bevölkerung »blutendes Herz«). Solche emotionalen Bekundungen können selten ein »Moment des Selbstbezugs«, zugespitzt des narzisstischen Selbstgenusses oder auch Selbstmitleids, verleugnen. Dagegen wird in dem rational verstehenden Bezug der Andere in seiner Andersheit anerkannt und nicht einem vagen Fühlen des Ichs eingemeindet: Nicht Clintons emphatisches »I feel your pain« also, sondern Wittgensteins asketische »Überzeugung, dass ein Anderer leidet«. Das bedeutet nicht etwa eine Abwertung des Gefühlsmoments als solchem. Es geht vielmehr allein um dessen ethischen Stellenwert, den Hamburger bestreitet. Soweit Mitleid vom Gefühl bestimmt oder mitbestimmt ist – und ohne das ist es kaum sinnvoll, von Mitleid zu sprechen –, kann es für Hamburger keine ethische Kategorie sein; es gibt keine Mitleidsethik, alle Versuche, zwischenmenschliches Verhalten normativ auf dem Mitleid zu begründen, haben nur Verwirrung angerichtet. Die lapidare Schlussfolgerung der Autorin lautet, dass es sich beim Mitleid um eine »ethisch neutrale« Gefühlsregung handele, die mal zu einer guten, oft zu gar keiner, nicht selten auch zu einer bedenklichen Handlung führen könne. Da Mitleid keinen intrinsischen ethischen Wert besitzt, gebe es auch keinen »mitleidigen Menschen«, so »wie es einen guten, gerechten, selbstlosen, tapferen usw. Menschen gibt«. »Mitleid«, so Käte Hamburger resümierend, sei keine Charaktereigenschaft, sondern gehöre dem menschlichen Gefühlsleben an. Unterhalb der strengen ethischen Schwelle jedoch behält das Mitleid für Hamburger als »Faktum der Teilnahme überhaupt« einen positiven Ort im zwischenmenschlichen Verhalten, von dem aus sich möglicher-, aber nicht notwendigerweise der Weg zu praktischem Beistand öffnet. Auf dieses Moment tätiger Mitmenschlichkeit kommt es Hamburger letztlich an; seiner Freilegung dient die ebenso aufwendige wie scharfsinnige Destruktion der bisherigen Mitleidstheorien, die nach ihr den ethischen Kern des Handelns nur verdunkelt hätten. Dieser Kern lässt sich als Frage formulieren: Gibt es einen Weg, der von Wittgensteins Überzeugung vom Leiden eines Anderen zum tätigen Beistand für diesen Anderen führt?


Zur genaueren Abgrenzung stellt Hamburger in einem ersten Schritt dem Mitleid die Gerechtigkeit als die andere Grundkategorie des zwischenmenschlichen Verhaltens gegenüber. In der Gerechtigkeit werde von der konkret-individuellen Beschaffenheit des Ichs und des Anderen sowie der jeweiligen Situation abstrahiert, die im Mitleid bewahrt, ja ursprünglich gemeint sei. Der Mitleid Fühlende richtet sich als dieses einzigartige Individuum auf das andere, leidende Individuum ebenfalls in seiner Einzigartigkeit, ohne dass der – vom Verstehen geleitete – Bezug in einem übergeordneten Dritten, einem vernünftig Allgemeinen aufgelöst würde. Aber auch dieser mitfühlende Verstehensakt zwischen Einzelnen in ihrer Individualität bedarf einer ihm vorausliegenden Gemeinsamkeit. Hamburger sieht sie in der von allen Menschen geteilten Menschennatur, die jede Annahme einer näheren »Gefühlsgrundlage« überflüssig mache. Dabei verweist sie auf einen zentralen Begriff des aufklärerischen 18. Jahrhunderts, den sie in der Fassung des schottischen Moralphilosophen David Hume erläutert: den Begriff der »sympathy«. Die Annahme einer ursprünglichen, allen Menschen gemeinsamen Gefühlsausstattung habe es Hume erlaubt, Mitleid (»compassion«, »pity«, deren Bedeutungsumfang enger ist als der von »sympathy«, der sie einschließt) als Mitgefühl mit einem emphatisch Anderen zu begreifen. Humes Theorie der »sympathy« stellt für Hamburger den einzigen Ansatz der gesamten Philosophiegeschichte dar, der ein Verstehen fremden Fühlens und insbesondere Leidens denken lässt, das »schon in sich selbst die Distanz [enthält], die in meinem Bewußtsein den anderen als den anderen von mir trennt«. Dieser Rückgriff auf den aufklärerischen Begriff der »sympathy« ist der zweite und entscheidende Schritt in Hamburgers Argumentation zugunsten einer »positiven« Mitleidsbestimmung. »Sympathy« oder Sympathie war der grundlegende Wert der humanistischen Ethik der Aufklärung. In der »Sympathie« bekundet sich die Zugehörigkeit aller Menschen zu dem einen »Menschengeschlecht«. Hamburger präzisiert diese Kernvorstellung des aufklärerischen Universalismus im Sinne ihrer Distanzkonzeption des Mitleids. »Sympathy«, so wie Hume (bzw. Hamburgers Hume) sie begreift, ist nicht als allumfassendes Menschheitsgefühl relevant, sondern allein als die Voraussetzung für den je einzelnen Akt des (empathetischen) Verstehens des Anderen, der dem Mitleid zugrunde liegt. Der legitime Ort des Mitleids liegt also zwischen den beiden Polen der persönlichen Betroffenheit im engsten Beziehungskreis einerseits und einem globalen Menschheitsgefühl andererseits, in denen beiden diese Distanz eben aufgehoben ist.


Dabei haben »Kummer und Sorge« um die Nächsten für Hamburger freilich unverkennbar höheren Wert als ein unterschiedsloses Mitfühlen »im Großen und Ganzen«. Der prinzipielle Vorbehalt gegenüber einem christlich-humanistisch-aufklärerischen Universalismus, sofern dieser sich aus der mitmenschlichen Praxis entfernt und ins Vage-Unverbindliche verflüchtigt, tritt mit aller Deutlichkeit in Hamburgers Ausführungen über eine dem Mitleid benachbarte, oft mit ihm verbundene praktische Haltung hervor: die Barmherzigkeit. Mit nachdrücklich positiver Parteinahme stellt Hamburger diese Haltung tätiger Mitmenschlichkeit der »gefühlsmoralischen Verhaltensweise« des Mitleids gegenüber. Zur Illustration greift sie auf das anschauliche Kernstück des neutestamentlichen Liebesgebots zurück: Jesu Erzählung vom barmherzigen Samariter. Der Samariter, der anders als die achtlos vorübergehenden Personen des Priesters und Leviten, vom Pferd steigt, um dem von Räubern Überfallenen und Verwundeten beizustehen, mag einem spontanen Gefühlsimpuls folgen, entscheidend aber sei die Tatsache seiner aktiven Hinwendung zum »Nächsten«. Mit der Erzählung antwortete Jesus auf die Frage des Schriftgelehrten, wer denn der »Nächste« des Liebesgebots sei: Es ist, so lehrt das Beispiel, jeweils der, den der Mensch durch barmherziges Handeln zu seinem Nächsten macht. »Barmherzigkeit« bezeichnet somit eine existenzielle Betroffenheit im Innersten, die mehr ist als bloßes Gefühl. »Da er ihn sah, jammerte sein«, übersetzt Luther. Für Hamburger erweist dieses Zitat den Affekt als wichtiges, aber hinter dem beherzten Eingreifen zurückstehendes Motiv. Barmherzigkeit, schreibt sie, sei »ein problemloses, jeglicher Diskussion entzogenes praktisches Tun«, weshalb es so wenig wie eine »Mitleidsethik auch keine »Barmherzigkeitsethik« gebe. Die Erleichterung der Autorin ist förmlich spürbar, jenseits des vagen und widersprüchlichen Mitleidsphänomens endlich den sicheren Boden moralischer Selbstverständlichkeit und Eindeutigkeit erreicht zu haben. Das christlich-paulinische Liebesgebot sieht Hamburger auf derselben Linie. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« bedeute nicht etwa eine Gefühlsübertragung von Ich zu Du – »Von der Selbstliebe führt kein Weg zur Nächstenliebe«, heißt es –, sondern die gemeinsame »Befolgung der Sittengebote, die das mitmenschliche Leben regeln und erst möglich machen«.

»Wie fern darf der Nächste sein?« Die erste Antwort Käte Hamburgers lautet: Als Gegenstand des Mitleids ist er notwendig fern, und zwar im Sinne einer bewussten Distanz zum »Anderen«. Dass andererseits der uns vorgängig Nahe- oder Zunächst-Stehende das Mitleid zugunsten von »Kummer und Sorge« ausschließt, wäre die zweite Antwort. Die dritte Antwort ist ihrerseits eine Frage, die an Hamburgers knappe Ausführungen zur Barmherzigkeit anschließt: Wie weit kann sich das »unpersönliche« Mitleid, das wir heute eher Empathie nennen würden, erstrecken, ohne sich in »folgenlosem Ergriffensein« zu erschöpfen? In welche Ferne dürfen, oder müssen wir sogar ausgreifen, um sie zum Raum des »Nächsten« zu machen, der vielleicht der Vorstellung einer »globalen Empathie« nahekommt? Und wie verhält es sich nun aus der Perspektive von Käte Hamburgers Mitleidskritik mit jenem aus der Aufklärung ererbten universalistischen Anspruch, der ja bis heute, in welcher kritischen Modifikation und Relativierung auch immer, die Grundlage jeder Reflexion über eine globale Ethik und Empathie geblieben ist?


In ihren literaturgeschichtlichen Arbeiten, etwa zur attischen Tragödie und ihren modernen Versionen im 20. Jahrhundert, zu Ibsen, zu Tolstoi und insbesondere zu Thomas Mann, zeigt sich Hamburger als pathosferne, nüchterne Verfechterin der klassischen Humanitätsidee und ihrer dichterischen Formung. Umso überraschender ist ihre Kritik im Mitleidsbuch an dem größten Exponenten der literarischen Aufklärung in Deutschland, Gotthold Ephraim Lessing. In Lessings an Aristoteles anschließender Tragödienkonzeption als einem »Gedicht, welches Mitleid erzeugt« und hierdurch moralische Wirkung ausübe, denn »der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch«, sieht Hamburger eine ebenso wirkungsmächtige wie verhängnisvolle Grenzverwischung von Realität und Fiktion und damit von Moral und Ästhetik am Werk, der ihre ganze Kritik gilt. Wie können wir, fragt Hamburger, Mitleid mit fiktiven Figuren empfinden, und wie, zweitens, dies dann in die lebensweltliche Wirklichkeit übertragen? Dies war in der Tat der Anspruch Lessings gewesen: Wir sollen das Theater gebessert verlassen, nicht etwa indem wir moralische Belehrungen empfangen haben, sondern durch die Erweiterung und »Übung« unserer Empathiefähigkeit. Das war gemeint mit dem »mitleidigsten Menschen« als dem »besten Menschen«: Er ist derjenige, der das Mitleid zu einer »tugendhaften Fertigkeit« habitualisiert hat und daher der »zu allen gesellschaftlichen Tugenden aufgelegteste«. Damit aber habe, so Hamburger, der große Aufklärer den »ontologischen Ort des Mitleids« verkannt, der allein im Bereich realer zwischenmenschlicher Beziehungen liege. Die »Mitleid genannte Teilnahme«, die sich auf den tragischen Helden richtet, gehört einer anderen Ordnung als der sozialen an: »Nebenmenschen, Mitmenschen können fiktive Figuren nicht sein.« Hamburger wird nicht müde, das Mitleid als »eine Kategorie der Realität« gegen jede ästhetische (dramaturgische) Übernahme zu verteidigen. Denn es sei gerade die Vermengung der verschiedenen Seinsweisen der Dichtung und der Realität gewesen, die maßgeblich zur Verkennung der Differenzstruktur des Mitleids beigetragen habe. Um nur ein Moment zu nennen: Fiktive Figuren suggerieren eine Transparenz des »Anderen« und damit eine restlose Einfühlungsmöglichkeit in ihn; in der Fiktion wird gerade die Andersheit, die den Anderen in seiner Wirklichkeit konstituiert, ausgelöscht.

Hier tritt der Bezug von Käte Hamburgers Mitleidskonzeption zu ihrem früheren wissenschaftlichen Werk klar zutage. Es geht ihr hier wie dort um die phänomenologische Abgrenzung von Dichtung und Wirklichkeit. Der »sprachtheoretischen« Begründung der Eigengesetzlichkeit dichterischer Fiktion war ihr bekanntestes, berühmtes Buch zur Logik der Dichtung gewidmet, dem ein weiteres, weniger bekanntes, mit gleicher Stoßrichtung unter dem Titel Wahrheit und ästhetische Wahrheit folgte. Hatte die erstere Untersuchung die Wirklichkeitsaussage von der Fiktionsaussage unterschieden, so untermauerte die spätere diese Grenzbestimmung mit einem philosophischen Wahrheitsbegriff, der strikt auf die historisch-lebensweltliche Realität – mit Wittgenstein das, »was der Fall ist« – beschränkt wurde. Hamburger unterzog die Rede von einer »ästhetischen Wahrheit«, wie sie einen bedeutenden Strang der (vor allem deutschen) Kunstreflexion von Hegel bis Heidegger und Adorno prägte, einer scharfen, von Polemik nicht freien Kritik. Wahrheit widersetzt sich, so heißt es, »der Seinsweise des Kunstwerks, der Kunst. In ihrem Bereich verliert Wahrheit den Bedeutungsgehalt, der sie konstituiert: identisch zu sein mit dem, was der Fall ist. Der Begriff der ästhetischen Wahrheit ist ein in sich selbst widerspruchsvoller Begriff […].« Hamburgers Scheidung von Wahrheit und Kunst dient dabei weniger dem Interesse der ästhetischen Autonomie als dem der Wahrheit in »ihrer letztlich ethischen Bedeutung als leitendem Wertbegriff menschlichen Lebens und der menschlichen Gesellschaft«.

Nun scheint jedoch bereits in der lebensweltlichen Mitleidserfahrung ein ästhetisches Moment wirksam, ja für sie unabdingbar zu sein. Es handelt sich um die Einbildungskraft. Schon in der aufklärerischen »sympathy« besaß die Einbildungskraft eine konstitutive Funktion, insofern sie die Erkenntnis vom Leid des Anderen erst zur lebhaften inneren Anschauung bringt. Hamburger stellt dies selbst für Hume fest und bescheinigt ihm sogar, das Mitleid völlig auf die Einbildungskraft gegründet zu haben; doch dann ist ihr dieser imaginative Prozess nur ein weiterer Beleg für die Reflexivität des Mitleids. Damit ist jedoch das Moment anschaulicher Unmittelbarkeit und imaginativer Intensivierung im Mitleidsakt unterschätzt. Es ist erst das Sich-vor-Augen-Stellen, Sich-zur-inneren-Anschauung-Bringen auch dessen, was aktuell vor Augen liegt, das uns das Leid des Anderen nahe bringt. Das Theater, und in weiterem Sinn die Kunst, aktiviert dasselbe Vermögen der Einbildungskraft, das bereits im lebensweltlich-mitmenschlichen Akt wirksam ist, und trägt – zugegeben idealerweise – die derart fiktional »eingeübte« Empathie wieder in die Lebenswelt hinein. Damit stellt sich auch die Frage von Nähe und Ferne neu, indem die Einbildungskraft ja jede Ferne »vor das innere Auge zu bringen« vermag. Das Phänomen eines »Mitleids auf die Entfernung« bringt die alles durchdringende Macht unserer zeitgenössischen Kommunikationsmedien (und deren politische Manipulationsmöglichkeiten) ins Spiel. Dass Hamburger solche mediale Fragen so gut wie ganz ausblendet, liegt auch an ihrer Depotenzierung der Einbildungskraft. Ein anderer schottischer Moralphilosoph des 18. Jahrhunderts, den Hamburger weniger ausführlich erwähnt, nämlich Adam Smith, hat dagegen das imaginative Moment im Mitleids- oder »Sympathie«-Transfer in den Mittelpunkt gerückt und damit ermöglicht, dieses über die physischen Grenzen der interpersonalen Begegnung hinaus zu erweitern. Durch die »imagination«, so Smith, sprengen wir im Mitleidsakt unsere physischen Grenzen und öffnen uns für den Anderen – «entering the other person’s body”, lautet die mehrmals wiederholte Formel hierfür. Dass dies kein irrationaler Verschmelzungsakt in der Weise Schopenhauers, vielmehr durchaus mit Hamburgers Distanzstruktur vereinbar ist, zeigt sich daran, dass Smith den Mitleidsbezug zugleich als Kommunikationssituation begreift, für die ihm weiterhin die Theaterkonstellation von Zuschauer und Schauspieler das Vorbild liefert. Der Zuschauer des Leidenden zeigt sich zur imaginativen Versetzung in dessen Zustand nur bereit, so Smith, wenn der ihn nicht unvermittelt überfällt, sondern in einen weiteren Verständnishintergrund eingebettet erscheint; angesichts eines aus dem Zusammenhang gerissenen, für uns kontingenten Leidens wenden wir uns nur ab. Erst die Kontextualisierung (Erklärung, auch Erfindung, und hier können wir sagen: Fiktionalisierung oder Narrativierung) erlöst das Leiden aus seiner Eingeschlossenheit im einzelnen Körper und macht es anderen Individuen zugänglich. Daher fordert Smith auf der anderen Seite vom Leidenden selbst, den Ausdruck des Schmerzes herabzustimmen, um dem Zuschauer die Empathie zu ermöglichen. Beide Seiten verhandeln gewissermaßen ihre empathische Verbindung unter einer dritten Instanz, die andererseits in dieser Verhandlung hervorgebracht wird und die Smith den »unparteiischen Zuschauer«, »impartial spectator«, nennt. Diese Verbindung führt das Leiden (des Anderen) also in die soziale Dimension. Sie tut dies durch die Mäßigung einseitig-partikularer Gefühle, die als potenzielle Gewaltquelle wahrgenommen werden, und ihre (generalisierende) Verwandlung in sozial verträgliche Qualitäten. Smith spricht von einem »pitch of moderation« und einer »gewissen Mittelmäßigkeit«, a »certain mediocrity”: Solche Mäßigung ist freilich kaum dem tatsächlichen, sondern nur dem dargestellten Leid möglich. So treffen sich Smith und Lessing, der Sozialtheoretiker und der Theaterdichter, in einer spiegelbildlichen Konstellation: Dem dramaturgischen Moment in Smiths sozialer »sympathy« entspricht das soziale Moment von Lessings dramaturgischem »Mitleid«. Grundlegend für beide Konzepte ist die Bewegung von der körperlich-partikularen auf eine allgemeinere, potenziell universale Ebene. In dieser Weise kann die Versetzung des Selbst in den Anderen durch die Einbildungskraft als gründender Akt für den Aufbau des abstrakten Systems einer modernen Gesellschaft dienen, indem sie zwischenmenschliche Unmittelbarkeit verbindet mit einem offenen Vorgang der Verallgemeinerung oder »Vergeistigung«. Lessings Theater als »Schule des Mitleids« ist gewissermaßen das Konzentrat dieses im lebensweltlichen Alltag zufälligen Vorgangs in einer institutionalisierten Form.

Natürlich beginnt hier erst das Problem, wie weit sich die Einbildungskraft öffnen kann, ohne die emotionale, geschweige die praktische Anteilnahme zu verlieren. Smith ist skeptisch, was die Ausdehnung imaginativer Empathie über den Bereich der Familie, Freunde, Nachbarschaft, vielleicht auch noch der Nation angeht, denn auch ihm kommt es in erster Linie auf die aus der Sympathie erwachsende moralische Praxis an. Die sympathetische Einbildungskraft muss in letzter (wie immer ausgedehnter) Instanz an einen realen mitmenschlichen Bezug gebunden bleiben; sonst bewegt sie sich in der »autonomen« ästhetischen Sphäre, aus der es nach Hamburgers Kritik nur einen illegitimen Übersprung in die ethische Sphäre geben kann. Inwieweit unsere Medien, zumal die visuellen, dennoch zu einer globalen Empathiegemeinschaft beitragen können, muss hier offen bleiben. Ein Moment der »realen« Theatererfahrung erscheint immerhin bedeutsam, insofern es einen Übergang zur Erfahrung zwischenmenschlicher Wirklichkeit herstellt. Schon das zur selben Zeit und am selben Ort versammelte Publikum erfährt ja, indem es sich gemeinsam in die Bühnenhandlung versetzt, an sich selbst den Übergang aus der jeweiligen individuellen Isolation in eine solidarische Gemeinschaft. Das Ziel der von Lessing gemeinten Vorstellung ist nicht bloß, jeden Einzelnen als »besseren«, das heißt mitleidsfähigeren Menschen aus dem Theater zu entlassen, sondern alle Zuschauer bereits im Hier und Jetzt der Aufführung durch geteilte »Sympathie« oder Einfühlung in dem Bewusstsein gemeinsamer Menschlichkeit zu vereinigen. Abgezogen von ihren jeweiligen ständischen, ethnischen, religiösen, geschlechtlichen Bestimmungen sollten die Zuschauer eine nahezu körperliche Erfahrung ihrer, wie das 18. Jahrhundert gerne sagte, »Menschheit« machen: die Erfahrung der Humanität. Das aufklärerische Theater war also »Schauplatz« im doppelten Sinn, als fiktionale Bühnendarbietung und als exemplarischer Erfahrungsraum einer neuen, auf Egalität und Universalität hin angelegten, daher »abstrakten« Gesellschaft. Zu fragen wäre, wie weit dies auf eine medial vermittelte »Weltgesellschaft« zu übertragen ist. Vielleicht können wir, indem wir Bilder zur gleichen Zeit aus – und in – allen Teilen der Welt sehen, zumindest in herausgehobenen Fällen uns als eine Weltgesellschaft emotional erfahren, ohne die Distanz der Rationalität aufzugeben.

»Wie plump fällt die Sprache über ein so polyphones Wesen her!« So Friedrich Nietzsche über Wort, Begriff und Phänomen des Mitleids, das er bekanntlich, anders als der größte Teil unserer europäischen, jüdisch-christlich-aufklärerischen Überlieferung höchst kritisch, ja abwertend betrachtete. Die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger, die sich seit ihrem Studium und der nachfolgenden – nie beruflich abgesicherten – Forschungstätigkeit in München und Berlin in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts intensiv mit philosophischen Fragen beschäftigte, wobei der Einfluss von Husserls Phänomenologie prägend war; diese bedeutende Frau, deren Lebensweg durch die doppelte Diskriminierung als Frau und Jüdin gezeichnet war, wendete sich in ihren hohen Achtzigern – nach der 1933 erzwungenen Emigration in Schweden, der Rückkehr nach Deutschland Mitte der fünfziger Jahre und schließlich dem späten Ruhm durch ihr Buch über die Logik der Dichtung, das die Sechzigjährige in Stuttgart als Habilitationsschrift einreichte (die erste germanistische Habilitation einer Frau in Deutschland überhaupt) – der Aufgabe einer Phänomenologie des Mitleids zu. In dem schwer zugänglichen, spröden Werk nimmt Hamburger zunächst eine penible begriffskritische Analyse des Gegenstands vor.

Meine Sprache
Deutsch

Aktuell ausgewählte Inhalte
Deutsch, Englisch, Französisch

Helmut J. Schneider

Professor (em.) für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bonn. Frühere Positionen an der University of California, Irvine and Davis. Zahlreiche Gastprofessuren (u.a. Stanford University, University of Virginia, Harvard University und Georgetown University). Veröffentlichungen über deutsche und europäische Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts.