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Wenn das Leben hart ist, schleicht die Zeit.

Soham Gupta

Angst

Übersetzt von Michael Heitz

Veröffentlicht am 11.07.2019

        Wie Blechdosen träge ziehen sich Ströme von Fahrzeugen durch das Grau der Betonstadt – und wie an einer Flussmündung zweigen Kleinwagen und gelbe, verbeulte Taxis von der Hauptstraße in Neben­arme ab, verteilen sich in vielerlei Richtungen. Von deinem Dach aus kannst du die ganze Stadt sehen, du kannst ihren Puls fühlen, auch wenn um dich eine derart fremde Stille herrscht, der Lärm dort unten weit, so weit weg ist, dass du dich geradezu nach ihm sehnst. Rundum ragen stumpfe Hochhäuser in den Himmel und die alte rostige Brücke gleicht aus der Ferne einem Spielzeugmodell. Du kannst alles sehen, und – wenn du dich hinauslehnst und die raue Eisenbrüstung umklammerst – sogar versuchen, unten die Spitze des Tempels zu erblicken. Schmetterlinge flattern wild in deinem Bauch – ein rascher Blick, das Herz beginnt zu rasen, der Kopf dreht sich, die Sicht verschwimmt – du schwörst, nie mehr wieder nach unten zu schauen, obwohl du weißt, dass es gerade der Schwindel ist, der dich immer wieder hinauf aufs Dach zieht. Der ­Tempel – er ist nicht groß, aber sehr beliebt – wird von großzügigen Lokalpolitikern und den Ladenbesitzern der Nachbarschaft unterhalten. Wenn du an ihm entlangfährst, Montags, Donnerstags, Samstags, bleibst du für eine ganze Weile im Verkehrschaos stecken, Menschenhorden auf der Straße, die drängeln, um einen Blick hinauf zum Pantheon zu erhaschen, mit seinen Göttern und Göttinnen, Menschen mit gefalteten Händen, im Gebet versunken, die Allmächtigen anflehend in vom Tod gezeichneter Verzweiflung. An manchen Tagen – mir ist nicht klar, an welchen –, aber an manchen Tagen, geben sie den Armen nachts etwas zu essen – und dann gibt es noch mehr Chaos, verdreckten Männern und Frauen wird in willkürlicher Reihenfolge Khichdi auf Papptellern gereicht, in der Hoffnung auf Reste warten räudige Hunde schon hinter ihnen, der Speichel tropft von ihren Zungen. Die jungen Männer sind Chootiyas, Deppen, erzählen mir die freiwilligen Helfer des Tempels. Keiner von denen ist behindert, keiner von denen ist ein Krüppel, und doch betteln sie in Lumpen gekleidet, diese Ärsche, wenn sie sich doch nur einen Plastikeimer und ein wenig Kleidung beschaffen würden, sich frühmorgens an einen ­Hydranten an irgendeine Straßenecke stellen würden, dann hätten sie mit dem ­Waschen von Taxis schon längst ein Vermögen verdient, doch diese Scheißkerle wollen nur Geld, um sich ein paar Tuben Klebstoff zu kaufen, das ist alles, elende Tiere, die schlagen sich sogar untereinander, wenn es Essen gibt, beklauen sich gegenseitig. Seit letztem Jahr, als...

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